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Stillen – von allen Seiten betrachtet

Stillen, Muttermilch
Gastbeitrag von Martin Elbel

Stillen – ist das nicht die natürlichste Sache der Welt? Als junger Vater nahm ich es fast als gegeben hin, dass meine inzwischen erwachsenen Söhne von ihrer Mutter während mehrerer Monate mehrmals täglich Muttermilch erhielten, diese schützende Substanz, die, wie ich inzwischen besser weiß, für ihre gesunde Entwicklung von so hohem Wert war.

Aber wird nicht das Stillen heute intensiv und kontrovers diskutiert? Sind nicht Mütter vielen verschiedenen Meinungen ausgesetzt, wenn sie sich über das Stillen Gedanken machen?

Stillen & Muttermilch – wissen wir genug?

Glücklicherweise wird das Thema Stillen heute in vielfältiger Weise, facettenreich, und aus ganz unterschiedlichen Blickwinkeln beleuchtet, und besonders wichtig scheint mir dabei, dass Mütter, die nicht stillen können, nicht herabgesetzt, sondern ermutigt werden, nach guten Alternativen zu suchen.

Aber die Tatsache bleibt: In vielen Ländern dieser Welt sind wir von den Empfehlungen zur Dauer des Stillens, die die Weltgesundheitsorganisation WHO, bedeutende Stillorganisationen, Ärzte und Fachpersonen postulieren, weit entfernt.

Vielleicht ist es halt doch einer der besten Wege dies zu ändern, indem wir immer wieder versuchen, interessierten Müttern wissenschaftlich gut abgestützte und verständlich geschriebene Information bereitzustellen?

Meine berufliche Tätigkeit hat es mit sich gebracht, dass ich die Herausgabe eines breitgefächerten Buches zu Stillen und Muttermilch begleitete. Ich möchte Ihnen gerne, wenn Sie gestatten, ein paar faszinierende Erkenntnis-Stücke daraus vorstellen.

Gesundheitlicher Nutzen der Muttermilch

Das Wissen über den gesundheitlichen Nutzen der Muttermilch habe, so lese ich, in den letzten 15 Jahren enorm zugenommen, wie auch die Kenntnis, was in der Muttermilch alles drin ist – und es gebe noch so viel zu entdecken.

Muttermilch enthalte alle nötigen Nährstoffe: Über 900 Proteine, die den Säugling schützen, viele langkettige, mehrfach ungesättigte Fettsäuren, die für die kognitive Funktion von Bedeutung sind, sowie Zucker, z.B. über 200 Oligosaccharide, die einerseits Krankheitserreger anlocken und binden und andererseits das Wachstum nützlicher Bakterien fördern. Dazu kämen Vitamine, Mineralstoffe, die das Kind in den ersten 6 Lebensmonaten braucht, und Antikörper zur Bekämpfung von Infektionskrankheiten, und Enzyme, die für eine optimale Verdauungstätigkeit erforderlich sind.

Und – das hat mich fasziniert – sie enthalte Stammzellen, die in das Körpergewebe des Säuglings integriert werden und sich zu vollständig ausdifferenzierten milchbildenden Zellen und Immunzellen entwickeln können, die Infektionen bei Mutter und Kind bekämpfen (S. 20ff und ausführlich S.101ff).

Da erinnere ich mich an eine Aussage, die ich kürzlich in einem Vortrag hörte: Muttermilch sei eine “virtuelle” Nabelschnur, über die bioaktive Stoffe weitergegeben werden, die den Säugling schützen und ihm helfen, seine Entwicklung ex-utero zu vollenden. «Muttermilch ist mehr als Nahrung – sie ist ein biologisches Wunder», schloss die Referentin damals.

Milchbildung

Wie sich auch etabliertes Wissen plötzlich verändern kann, erzählt das Kapitel über die Milchbildung (S. 41ff.). Während über 160 Jahren folgten die Lehrbücher den Erkenntnissen des englischen Arztes Sir Astley Cooper. Er beschrieb Milchgänge hinter dem Brustwarzenhof, die durch den Druck entleert würden, den der Säugling mit seinen Lippen ausübe.

Erst 2005 ging man diesem Sachverhalt mit Ultraschalluntersuchungen beim trinkenden Säugling erneut nach: Aber da konnten keine solche großen Milchgänge nachgewiesen werden! Sondern man fand, so wird im Buch beschrieben (S. 59ff), dass der Bereich unmittelbar unter dem Brustwarzenhof dicht mit Drüsenläppchen bestückt sei, mit den Alveolen, in denen Laktozythen die Milch produzieren.

Wenn das Baby zu saugen beginne, zögen sich Myoepithelzellen, die die Alveolen umgeben, durch Stimulierung durch das Hormon Oxytocin zusammen, und dadurch werde die Milch durch die Milchgänge Richtung der Brustwarze gepresst.

Und in der Folge erkannte die Forschung einen ganz anderen Saugmechanismus beim Baby! Es erzeugt durch die Bewegung der Zunge nach unten ein Vakuum. Dadurch werden die Milchgänge in der Brustwarze aufgedehnt, die Milch fließt in die Mundhöhle und wird dann vom Baby geschluckt, gesteuert durch den angeborenen Saug-Schluck-Reflex. Faszinierend, nicht?

Stillen als Schutz für Frühchen

Es ist eine wunderbare Errungenschaft der Medizin, dass zu früh geborene Babys schon ab der 25. Schwangerschaftswoche in der neonatalen Intensivstation (NICU) überleben können.

Im Buch zeigen Wissenschaftler ausführlich, wie Muttermilch das kurz- und langfristige Risiko von zahlreichen Komplikationen bei Frühchen, wie die oft tödliche Erkrankung mit nekrotisierender Enterokolitis (NEC), vermindert (S. 278ff), weil die zahlreichen in der Muttermilch enthaltenen Nährstoffe und bioaktiven Komponenten hier eine synergistische Schutzwirkung entfalteten. Wenn Milch der leiblichen Mutter nicht zur Verfügung stehe, sei Spenderinnenmilch immer noch besser als industriell hergestellte Säuglingsmilchnahrung.

Das Buch macht Mut, dass Mütter von zu früh geborenen Babys mit fachlicher Anleitung und mithilfe einer geeigneten Milchpumpe trotz der erschwerenden Faktoren, wie erhöhte Stressbelastung, Erschöpfung und Schmerzen, Milch für ihr Baby gewinnen können. Dazu passt der Satz: «Fast alle Säuglinge auf der NICU (…) brauchen in dieser Zeit [4-6 Wochen nach der Geburt] nur geringe Mengen Muttermilch; ihre Mütter können sie also ausschließlich mit Muttermilch ernähren, auch wenn sie nur geringe Mengen abpumpen». (S.286)

Stillen & Medikamente

Und zum Schluss möchte ich noch auf das ausführliche Kapitel zum Stillen und der Anwendung von Medikamenten hinweisen (S.371ff). Es beschreibt, wie Arzneimittel in die Muttermilch übertreten können und geht detailliert auf die aktuelle wissenschaftliche Forschung zu den gängigsten Arzneimitteln ein.

Die Wissenschaftler machen Mut, dass in den meisten Fällen dazu geraten werden solle, weiterhin zu stillen.

Der Autor

Martin ElbelMartin Elbel, Vater zweier erwachsener, einst gestillter Söhne, war nach dem Studium der Geschichte in Zürich/Schweiz in verschiedenen Unternehmen in leitenden Kommunikationsfunktionen tätig. Das Belebende an diesem Beruf ist, dass man sich in immer wieder neue Themen einarbeiten kann. So beschäftigte er sich zunächst aus beruflichen Gründen mit Stillen und Muttermilch und dem breiten gesellschaftlichen Diskurs um dieses Thema, das ihn bis heute bei seiner Arbeit für die Familie Larsson-Rosenquist Stiftung fasziniert.

Das Buch zum Thema Stillen

Titel: Stillen und Muttermilch: Von den biochemischen Grundlagen bis zur gesellschaftlichen Wirkung*

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Inhalt: Stillen wirkt positiv auf die Gesundheit von Kindern, und zwar lange über die Stillzeit hinaus. Das Stillen an sich und die Muttermilch selbst haben deutlichen Einfluss auf spätere Gesundheitsrisiken. Und dennoch: Die Stillraten in vielen Ländern lassen zu wünschen übrig.

Was macht ein stillfreundliches Umfeld so notwendig und welche Rahmenbedingungen lassen sich dafür schaffen? Entscheidungsträger und Fachkräfte aus der Praxis finden in diesem Kompendium Argumente und konkrete Handlungsfelder. Das Team internationaler renommierter Autoren veranschaulicht wissenschaftlich fundiert die überraschenden Zusammenhänge zwischen Stillen, Public Health und volkswirtschaftlichem Nutzen und benennt Strategien für länder- und interessensgruppen-übergreifende Partnerschaften. Das erste allumfassendes Still- und Muttermilchbuch!

Die Family Larsson-Rosenquist Foundation (FLRF) ist eine unabhängige gemeinnützige Stiftung mit Sitz in Frauenfeld in der Schweiz. Sie ist die weltweit einzige Stiftung, die sich der Unterstützung und Förderung von Stillen und Muttermilch widmet.

Herausgeber: Georg Thieme-Verlag
Gebundene Ausgabe: 472 Seiten
ISBN-13: 978-3132204317
Preis: 49,99 EUR

Stillen, Muttermilch

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